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ECCLESIAM SUAM
Aus Nr. 03/04 - 2012

REFLEXIONEN ÜBER GEHEIMNIS UND LEBEN DER KIRCHE

Der Zeuge ist derjenige, der seinen Leib darbringt


Kardinal Georges Cottier: Das Bild des Mondes hilft, die Natur der Kirche und den Horizont ihrer Sendung zu verstehen.


von Kardinal Georges Cottier OP


Kardinal Georges Cottier

Kardinal Georges Cottier

 

Beim Lesen des L’Osservatore Romano bin ich auf einen Artikel von Kardinal Kurt Koch gestoßen, der am vergangenen 27. Januar unter einem ungewöhnlichen Titel veröffentlicht wurde: „Lunare Ekklesiologie“. Es handelte sich um eine Rezension des Buches von Kardinal Walter Kasper: Katholische Kirche. Wesen – Wirklichkeit – Sendung, das in Italien unlängst bei „Queriniana“ herausgekommen ist. In einigen Abschnitten des Buches, die auch in der Rezension hervorgehoben wurden, habe ich wertvolle Denkanstöße gefunden, vor allem im Hinblick auf das Jahr des Glaubens und die kommende Bischofssynode über die Neuevangelisierung.

Der Titel der Rezension von Kardinal Koch verweist auf eine traditionsreiche Analogie, die schon von den Kirchenvätern der ersten Jahrhunderte auf die Kirche bezogen und auch im Mittelalter wieder aufgegriffen wurde: dieser Analogie zufolge kann das Wesen der Kirche mit dem Bild des Mondes erfasst werden. Der Mond erleuchtet die Nacht, aber das Licht kommt nicht von ihm selbst, sondern von der Sonne. Genauso ist es mit der Kirche: Sie trägt das Licht in die Welt, aber dieses Licht, das sie trägt, ist nicht ihr eigenes. Es ist das Licht Christi. „Die Kirche“, so Kardinal Koch in seiner Rezension, „darf sich deshalb nicht selbst sonnen wollen, sondern sie muss sich damit zufrieden geben, Mond zu sein, der sein ganzes Licht von der Sonne erhält und es in die Nacht hinein strahlt.“ Indem die Kirche das Licht von Christus em­pfängt, lebt sie die Fülle der Freude, denn – so Paul VI. im Credo des Gottesvolkes – sie „lebt kein anderes Leben als das der Gnade“.

Am Vorabend des Jahrs des Glaubens mag das Bild des Mondes eine Hilfe sein, um zu verstehen, was das Wesen der Kirche und der Horizont ihrer Sendung ist.

Der Vergleich mit dem Mond darf nicht als Einschränkung der Sendung der Kirche aufgefasst werden. Die Kirche ist auf ihre Weise verantwortlich für das Licht Christi, das sie widerspiegeln soll. Dieses Licht darf nicht verdunkelt werden. Die Kirche muss es zurückwerfen und darf jenen Lichtreflex in ihr nicht trüben oder gar auslöschen. Wie es der Mond in der Nacht tut, muss sie das Licht Christi in der Nacht der Welt verbreiten, einer Welt, die auf sich selbst gestellt in der Sünde und im Schatten des Todes bleiben würde. So sagte der bereits zitierte Papst Paul VI. in seiner Ansprache zum Beginn der 2. Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils: „Wenn die Arbeit der inneren Heiligung vollendet sein wird, kann die Kirche ihr Antlitz der ganzen Welt mit den folgenden Worten zeigen: Wer mich sieht, sieht Christus, so wie der göttliche Erlöser von sich selbst gesagt hatte: ,Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen‘ (Joh 14,9)“.

Das Bild des Mondes hilft uns auch, die Dynamik der Sendung zu begreifen, zu der die Kirche berufen ist. Schon Paul VI. bemerkte in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi (1975): „Der heutige Mensch […] hört lieber auf Zeugen als auf Gelehrte, und wenn er auf Gelehrte hört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind.“ Nietzsche hat vom “methodischen Zweifel” gesprochen. Deshalb ist vor allem in unserer Zeit die angemessenste und entwaffnendste Art und Weise, mit der sich das Licht des Wortes Gottes der Welt darbietet, die des Zeugnisses. Auch in diesem Zusammenhang bietet das Bild des Mondes tröstliche Denkanstöße.

Der Zeuge ist per definitionem ein etwas Bezeugender, jemand der – ohne Eigenes hinzuzufügen – etwas bezeugt, das von ihm unterschieden ist. Auch das Zeugnis des christlichen Glaubens ist keine eigene Anstrengung, es bedeutet nicht, den Dingen des Lebens weitere Verpflichtungen hinzuzufügen. Noch weniger bedeutet es, Propaganda oder Proselytismus für bestimmte Ideen zu betreiben.

Die <I>Abnahme Jesu vom Kreuz</I>, tafel aus dem 10. Jahrhundert am Portal der Kirche San Zeno (Verona).

Die Abnahme Jesu vom Kreuz, tafel aus dem 10. Jahrhundert am Portal der Kirche San Zeno (Verona).

Der Zeuge ist derjenige, der seinen eigenen Leib darbringt, seine eigene konkrete menschliche Situation zur Verfügung stellt, damit in ihr die Gnade des Herrn erstrahle. Genau so, wie es der Mond macht, auf dessen opaker Materie sich das von der Sonne ausgestrahlte Licht widerspiegelt. „Angesichts des Erbarmens Gottes ermahne ich euch, meine Brüder, euch als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott gefällt; das ist für euch der wahre und angemessene Gottesdienst“, schreibt der heilige Paulus in seinem Brief an die Römer (12,1). Und wie Benedikt XVI. erst unlängst in seiner Lectio divina am römischen Priesterseminar sagte, ist gerade die Darbringung unseres Leibes, unseres täglichen Lebens die Bedingung dafür, dass „unser Leib […] zusammen mit dem Leib Christi Verherrlichung Gottes, Liturgie wird“, dass der Leib selbst „Verwirklichung unserer Anbetung“ wird. Die Wirkung der Gnade auf das Leben der Zeugen offenbart sich in der Heiligkeit, die gerade aus diesem Grund keine nur wenigen vorbehaltene Errungenschaft ist, sondern eine reale Möglichkeit, die sich dem konkreten Leben aller Getauften darbietet, wie es auch der selige Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte zum Ausdruck gebracht hat. Die Heiligkeit ist das, was am besten das innerste Geheimnis der Kirche zum Ausdruck bringt.

Die Wirklichkeit, die den Menschen die Begegnung mit Christus ermöglicht, ist das Leben seiner Jünger. Sie sind keine Aktivisten einer ihrem eigenen Leben fremden Botschaft. Wie das Zweite Vatikanische Konzil lehrt, wirkt die Gnade in ihnen so, dass sie den Reichtum ihrer Gaben nicht für sich behalten und gleichsam egoistisch vereinnahmen können, wie einen Besitz, von dem die anderen ausgeschlossen werden. Die Gnade teilt sich vielmehr aus eigener Kraft mit und erstrahlt im Glanz des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, der im Leben der Christen Zeugnis für Christus ablegt: „fide, spe, caritate fulgentes“, wie in Abschnitt 31 von Lumen gentium zu lesen ist. Don Luigi Giussani hat einmal gesagt: „Die wahre Verkündigung geschieht durch das, was Christus in unserem Leben aus der Bahn geworfen hat, geschieht durch die Umwälzung, die Christus in uns bewirkt: wir machen Christus gegenwärtig durch die Veränderung, die Christus in uns bewirkt. Das ist das Wesen des Zeugnisses.“

Was für den einzelnen Getauften gilt, gilt auch für die Kirche. Die Kirche muss nichts erfinden. Wie es der Mond bei der Sonne tut, hat sie nur ihren eigenen Leib zur Verfügung zu stellen, damit die Gnade sich in ihm widerspiegeln kann. Wenn die Kirche sich selbst bezeugen will, wirkt sie weder anziehend noch erfreut und getröstet vom Herrn. Und auch die kirchlichen Belange sind dann unseligerweise gekennzeichnet von jener „Eitelkeit, die der Wahrheit entgegensteht und mich nicht glücklich … machen kann“, auf die Benedikt XVI. unlängst bei seiner Begegnung mit dem Klerus der Diözese Rom hingewiesen hat.

In der Kirche wie bei jedem einzelnen Christen findet diese Darbringung des eigenen Leibes und der eigenen Situation – damit in ihr die Gnade des Herrn wirken und erstrahlen kann – in der Form einer Bitte ihren Ausdruck: als Gebet. Gerade weil es sich um ein einfaches Zur-Verfügung-Stellen handelt, hat diese Darbringung die Form der Bitte, d.h. des Gebets. In diesem Zusammenhang soll festgehalten werden, was Kardinal Kasper am Ende seines Buches schreibt, dass nämlich „die Kirche der Zukunft vor allem eine betende Kirche sein wird“. In der Anrufung des Bittgebets, aber auch im Lobpreis bezeugen wir unsere Abhängigkeit von Gott. Hier wird nicht die persönliche Empfindung betont, sondern die objektive Tatsache, dass wir Beschenkte sind. Weil wir freie Geschöpfe sind, findet unsere Freiheit Erfüllung in der Dankbarkeit, das Geschenk anzunehmen, damit seine Möglichkeiten, die von uns aus unvorstellbar wären, in uns Frucht bringen.

Jesus und Johannes, Detail des <I>Letzten Abendmahls</I>, tafel aus dem 10. Jahrhundert am Portal der Kirche San Zeno (Verona).

Jesus und Johannes, Detail des Letzten Abendmahls, tafel aus dem 10. Jahrhundert am Portal der Kirche San Zeno (Verona).

Das Zeugnis der Christen und die Sendung der Kirche verwirklichen sich in einem oft von Widerspruch und Gegnerschaft geprägten Umfeld. Das sind die Leiden des Apostels, von denen schon der heilige Paulus sprach. In vielen westlichen Ländern sehen wir das Entstehen aggressiver antichristlicher Bewegungen. Die Ablehnung des Glaubens nimmt zu. Zwar wächst auch die Kirche, aber die Christen werden in vielen Teilen der Welt verfolgt. Das alles darf uns nicht überraschen. Die Evangelien, die Paulusbriefe und auch die Apokalypse sagen uns bereits, dass die Verfolgung Teil der Befindlichkeit der Kirche auf Erden ist. Und mit dem letzten Konzil hat die Kirche in lebendigerer Weise das wiedergefunden, was sie in ihren Heiligen, wie dem heiligen Franz von Assisi, schon immer gewusst und gelebt hat: dass es nämlich angesichts der Schwierigkeiten und Verfolgungen eine mit dem Evangelium übereinstimmende Art und Weise der Reaktion gibt – ja, ich würde fast sagen: einen „Stil“ des Evangeliums: er wird in den Seligpreisungen beschrieben. Eine andere Art und Weise, mit Widrigkeiten umzugehen, bewegt sich dagegen immer noch in einer Perspektive, die in der Vergangenheit in den Kreuzzügen ihren Ausdruck fand. Manchmal kann man hören, wie jemand, ausgehend von den Verfolgungen oder der sogenannten „Christianophobie“, neue Kampfstrategien entwickelt. Dabei haben die Ereignisse der Geschichte doch mittlerweile allen klar gemacht, dass die Perspektive des Kreuzzugs eine Verweltlichung und Instrumentalisierung des Christentums ist und ihr Versiegen eine Befreiung, ein Vorteil für die Kirche war. Außerdem ist es immer irreführend zu meinen, es gäbe historische Epochen, die von Gott mehr geliebt worden seien als andere. Das ist eine millenaristische Versuchung, die nicht dem echten sensus fidei entspricht. Gott liebt auch unsere Zeit mit all ihren Problemen. Statt sich in eine utopische und trügerische Nostalgie zurückzuziehen, ist es vielmehr notwendig, auf das zu blicken, was das Zweite Vatikanische Konzil die „Zeichen der Zeit“ nennt. Die derzeitigen starken Migrationsbewegungen z.B. stellen eine konkrete Gelegenheit dar, um wirklich – und vielleicht zum ersten Mal ganz intensiv – die Universalität des Evangeliums zu erleben. Heute muss ein Europäer nicht mehr Zehntausend Kilometer zurücklegen, um einem Chinesen zu begegnen, ihn kennenzulernen. Chinesen, Inder, Araber trifft er in den Metropolen, und auch in seinem eigenen Land. Die Situation ähnelt in gewisser Weise der, die der heilige Augustinus erlebt und der er sich angepasst hat, als die Ankunft neuer Völker das Ende einer historischen Epoche bedeutete, zugleich aber der wehrlosen Kraft der christlichen Verkündigung neue Verbreitungsmöglichkeiten eröffnete.

In diesem Zusammenhang sind die Worte, die Benedikt XVI. in letzter Zeit gesagt hat, für alle ein großer Trost. Dort wo der Papst wiederholt, dass „die Kirche nicht für sich selbst existiert, sie nicht das endgültige Ziel ist, sondern sie über sich hinausweisen muss, nach oben, über uns hinaus“, und wenn er hinzufügt: „Die Kirche regelt sich nicht in autonomer Weise, sie gibt sich nicht selbst ihre Ordnung, sondern empfängt sie vom Wort Gottes, das sie im Glauben hört und zu verstehen und zu leben sucht.“ Diese in der Predigt zum Hochfest Kathedra Petri gebrauchten Worte erfassen mit dem Realismus eines liebevollen und leidenschaftlichen Blicks das Geheimnis der Kirche. Und sie können allen helfen, die Gefahren und Möglichkeiten wahrzunehmen, die in den gegenwärtigen Umständen den Weg der Kirche durch die Zeit prägen.



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